Einbeck (red). Pünktlich um 6.58 Uhr stehen sie am Bahnsteig und steigen in den ICE, der um diese Zeit in Northeim hält: Pastorinnen und Pastoren sowie Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker und die Kirchenkreisjugendwarte des evangelisch-lutherischen Kirchenkreises Leine-Solling starten ihre Studienreise. Nach drei Jahren Corona-Pause ist dies die erste gemeinsame, mehrtägige Fortbildung. Diesmal steht die viertägige Fahrt vom 29. August bis 1. September unter dem Titel „Stadt, Land, Kirche – Was man von hier aus sehen kann…“ Die Teilnehmenden stellten sich der Frage: „Wie bleibt christlicher Glaube im 21. Jahrhundert sprachfähig und lebendig? Was brauchen wir dazu?“. Ziel ist die Weltstadt Hamburg.
Den Auftakt macht die Flussschifferkirche, die „einzige schwimmende Kirche Deutschlands“ und heute beliebter Ort für Trauungen und mehr. Neben Orgel und Altar erinnern viele Gegenstände im früheren Laderaum an die Schifffahrt. Ein Tau legt sich um einen Poller, Ruder hängen an den Wänden und Signallampen leuchten in rot und grün. „Wenn die Menschen nicht zur Kirche kommen können, muss die Kirche zu den Menschen kommen", erinnert Seelsorger und langjähriger Vorstand des Vereins, Manfred Jahnke, an das Motto des Hamburger Theologen Johann Hinrich Wichern aus dem 19. Jahrhundert. Dieser gilt als Begründer der Diakonie und hat 1870 die Binnenschifferseelsorge gegründet. Seit mehr als 70 Jahren ist dies in Hamburg möglich, auch wenn es schwierig ist, Nachwuchs zu gewinnen: „Ein Trägerverein finanziert den Erhalt der ungewöhnlichen Kirche mit Angeboten für Seeleute und Hamburgbesucher und muss jährlich rund 100.000 Euro aufbringen. Wenn wir den Sinn nicht vermitteln, warum wir das tun, brauchen wir uns über Finanzen gar nicht erst zu unterhalten“, sagt Jahnke.
Ein neues Angebot ist dagegen das Ökumenische Forum HafenCity. Mitten im neuen Hafenviertel will Kirche präsent sein und zwar als ökumenisches Angebot in einem neu entstehenden Quartier. Bis 2025 sollen hier 15.000 Menschen wohnen und 45.000 ihren Arbeitsplatz haben. „Wir versuchen geistliches Leben aufrecht zu erhalten, wo das Leben pulsiert“, sagt Pfarrer Stephan Dreyer, der Delegierte des Erzbistums Hamburg: „Wir schaffen hier einen sakralen Raum mit einer Kapelle, einer geistlichen Gemeinschaft, Gastronomie und Wohnungen auf vier Etagen.“ Neun Konfessionen haben sich dafür zu einem Verein zusammengeschlossen: „Ohne uns wäre dies der erste Hamburger Stadtteil ohne Kirche gewesen“. Allerdings sei es nicht einfach, das geistliche Leben aufrecht zu erhalten.
Von der Schwierigkeit die Menschen zu erreichen, weiß auch Julian Sengelmann. Er ist Moderator und Schauspieler („Türkisch für Anfänger“) und zugleich Pastor mit halber Pfarrstelle. „Glaube ja – Kirche nein?“ – so lautet der Titel des Buches, aus dem er liest und mit den Teilnehmenden des Kirchenkreises diskutiert: „Die Kirche ist exklusiv geworden und damit genau das Gegenteil von dem, was sie eigentlich sein möchte.“ Ein Grund sei die Vielfalt der Lebenskonzepte und die alternativen Sinnangebote. Darum muss auch die Kirche sich wandeln und beweglicher werden. „Wir brauchen eine ´Church on demand´, die fragt: Wie sieht der Gottesdienst aus, den ich selber gerne besuche? Was suchen und brauchen Menschen?“
Genau dies tut auch eine ungewöhnliche kirchliche Agentur im Hamburger Großraum mit dem Titel „St. Moment“: Die Mitarbeitenden informieren über Taufen und Trauungen und bieten diese an ungewöhnlichen Orten an unter der Überschrift: „Heilige Momente – so bunt wie das Leben.“ Anlass der Gründung der Serviceagentur ist der Rückgang der Anfragen für Taufen, Trauungen und Trauerfeiern in den Ortsgemeinden. Dabei seien diese lebensbegleitenden Feste die wichtigsten Beziehungsorte: „Und die Sehnsucht nach Segen ist groß, wir sollten Segen verschenken und nicht verwalten“, berichtet Pastorin Meike Barnahl, Leiterin der Ritualagentur. Unter anderem organisierte St. Moment gemeinsam mit Kirchengemeinden ein Tauffest mit mehr als 500 Taufen: „Denn unsere Kirche sollte nicht starr sein, sondern in Bewegung“.
Eher klassisch und zugleich touristisch dagegen geht es am Michel zu. Das Wahrzeichen Hamburgs ist beides: Kirche und zugleich ein Unternehmen mit rund 1,5 Millionen Besucherinnen und Besuchern im Jahr. Vielfältige Angebote von Andachten über Konzerte zu Großveranstaltungen wie dem Hafengeburtstag stehen auf dem Programm. „Menschfreundlich und einladend wollen wir sein, jeden Sonntag gibt es mehrere Gottesdienste und am Abend einen „Evensong´“, berichtet Gemeindepastor Stefan Holtmann. Und er verrät: „Die Marke ´Michel´ steht über allem. Und ein bisschen Kitsch in der Barrockkirche ist auch dabei“. Besonders beeindruckend ist die Kirchenmusik mit vielfältigen musikalischen Angeboten. Im Michel können drei Orgeln über einen Spieltisch gespielt werden.
„Wir erleben, dass immer weniger Menschen sich zu einer klassischen Kirchengemeinde zugehörig fühlen“, berichtet auch der Propst des Kirchenkreises Hamburg–West, Martin Vetter, der ebenfalls als Hauptpastor für Citykirchenarbeit zuständig ist: „Je vielfältiger wir unsere Angebote leben, desto besser sind wir aufgestellt.” Andererseits bedeutet das: „Je innovativer wir werden, desto mehr müssen wir die Tradition erklären.“ Viele Kirchgemeinden seien zusätzlich mit Finanzen, Nachwuchsmangel und Kirchgebäudemanagement beschäftigt, so der Propst, der den Großkirchenkreis Hamburg-West auf eine Zeit mit „weniger Kirchensteuern und weniger Pastorinnen und Pastoren“ vorbereitet.
Für die Reisenden aus dem Kirchenkreis Leine-Solling, die im St. Ansgar-Haus des Erzbistums Hamburg untergekommen waren, wurde am Ende deutlich, dass es keine einfachen Lösungen gibt. Willkommenskultur und Alternativen zur Ortsgemeinde sind in ländlichen Gemeinden ebenso wichtig wie in der Großstadt. „Multiprofessionalität stärken, weltlicher werben, Heiliges in der Welt entdecken, Segen schenken, nicht verwalten” – dies waren Stichworte, die vor Ort weiterbewegt werden. Viele praktische Ideen wurden ebenfalls mitgenommen. „Wir müssen aber unser Licht nicht unter den Scheffel stellen”, sagte ein Teilnehmer zum Abschluss: Manche zukunftsweisende Idee sei schon lange im Kirchenkreis Leine-Solling angekommen und umgesetzt.
Foto: Jan von Lingen