Einbeck (zir). Unscheinbar wirkt das Gebäude, in dem sich der europaweit älteste Handwerksbetrieb seiner Branche befindet. Mit dem Baustil der Gattung „Fachwerk“ und seiner mit roten und grünen Akzenten verzierten Fassade bildet das Haus nur eines von vielen der gleichartig wundervoll gestalteten Gebäude in Einbeck. Vor dem Haupteingang des sichtlich mehrere Jahrhunderte alten Gebäudes lassen sich Tücher, Taschen und sonstige Textilien vom Wind tragen. Die Fenster, die ihr Gegenüber spiegeln, lassen weitere Textilien hervorscheinen. Zwischen den künstlerisch vielfältig gestalteten Textilien entdeckt man auch das ein oder andere Schmuckstück. Oben am Fenster klebt eine weiße Folie mit der blauen Aufschrift: „Einbecker Blaudruck.“
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Die Eingangstür führt direkt zum Hausflur, der erst durch die auch dort stehenden Textilien Farbe verliehen bekommt. Der Flur führt neben einer Treppe nach oben auch in zwei Räume, die die vielfältigen Produkte des Einbecker Blaudrucks beherbergen. Zur Linken zieren vor allem Kissen in Grün, Blau, Gelb oder Rot die Regale – jedes einzelne mit unterschiedlichen Mustern. Auf einem Tisch in der Mitte des Raumes wechseln Dekorationen mit Portemonnaies und Handtaschen die Präsentation ab. Im Raum zur Rechten stechen viele Pailletten hervor, die von der Decke hängen. Auf jeder einzelnen stehen Sprüche wie „Everything you go through, grows you“ (Alles, was du durchmachst, lässt dich wachsen) oder „Happiness is not a destination, it’s a way of life“ (Glück ist kein Ziel, sondern ein Weg des Lebens). Auch hier liegen in den Regalen und auf Tischen bunte Tischdecken, Tischläufer oder Textilservietten mit verschiedenen Mustern. Neu sind hier im Vergleich zum vorherigen Raum Kleidungsstücke, deren Muster denen der Tücher in den Regalen ähneln. Ob Sommerkleid, Hemd oder Weste: Jedes einzelne Stück wird durch seine einzigartigen Muster zu einem Hingucker. Zusätzlich zu der breiten Auswahl an bunten Textilien glänzen und glitzern Schmuckstücke an der hinteren Wand: von gelben Ohrringen über eine Silberkette mit blauem Anhänger bis hin zu einer bunten Perlenkette – die Qual der Wahl sticht hervor.
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Über den Regalen an der Wand fallen „Holzblöcke“ in Rautenform auf. Jeder einzelne Block zeigt ein Muster, das Malereien aus dem Mittelalter ähnelt. „Das sind Modeln“, erklärt Ulf Ahrens, Inhaber des Einbecker Blaudrucks und zeigt auf die Modeln. „Hier sehen wir beispielsweise den Rattenfänger von Hameln und hier eines, das extra zum Jubiläum der Einbecker Brauerei gefertigt wurde“, erklärt der Inhaber. Die Modeln sind wichtige Werkzeuge des Blaudrucks und bestehen aus Holz. Die Muster, die jede einzelne Model aufweist, werden aus Messing gebogen. Über 800 Modeln besitzt die Blaudruckerei – teilweise noch aus dem 18. Jahrhundert.
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Ulf Ahrens ist 64 und übt die Tätigkeit des Blaudrucks seit 1985 aus. Eigentlich Kfz-Mechaniker als Beruf, befand sich der Inhaber eine Zeit lang in der Arbeitslosigkeit. „Mein Opa kannte den Wittram – dessen Familie bis 2005 die Blaudruckerei führte – sehr gut. Über ihn bin ich in die Werkstatt gekommen und lernte mein Handwerk von Wittram selbst. Seit 2005 führe ich die Druckerei und bin einziger Drucker“, erzählt Ahrens und führt weiter aus: „Heute bin ich 64 Jahre alt und leider ist noch kein Nachfolger für mich in Sicht. Ich werde meinen Job noch so lange machen, wie ich kann, aber wenn sich kein Nachfolger findet, dann wird die Blaudruckerei stillgelegt werden müssen.“
Eine Tür zum Hinterhof führt zu einem weiteren Gebäude, in dem die Blaudruckerei ihren Geschäften nachgeht. Durch eine weitere Tür führt eine in die Jahre gekommene Holztreppe knarzend zur oberen Etage. Dort – offenbart durch ihren Geruch aus altem Holz und einem leichten Hauch von Essig – macht sich der Ort des Geschehens bemerkbar. Stapel von unfertigen Textilien in unterschiedlichen Farben und riesige Tische mit verschiedenen Werkzeugen zeichnen den Raum. Im Nebenzimmer schallen die ratternden Nähmaschinen durch die Wände. Ebenfalls mitten im Raum steht eine Art Wanne, in der eine grüne Flüssigkeit langsam vor sich hin trocknet und der Holzlack zweier Modeln im Licht der Deckenlampen schwach schimmert.
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„Hier in der Wanne haben wir das sogenannte Druckpapp“, sagt Ahrens und zeigt auf die grüne Flüssigkeit. Seine Hände greifen nach den darin liegenden Modeln, deren Messinganteile er anschließend in den Druckpapp taucht. Hinter ihm, auf einem leicht angeschrägten Tisch, liegt ein weißes, feines Tuch, das auf dem Tisch gespannt ist. Leichte grüne Punkte, angeordnet in einem Muster, lassen sich auf Teilen des Tuches erkennen. Ahrens setzt zusammen mit einem Zollstock die Model an das bereits vorhandene Muster an. Mit geballten Fäusten klopft der Inhaber auf die Model. Zwei dumpfe Geräusche schallen durch den Raum. Das Muster ist ein Stück weiter vervollständigt. Aber wieso wird hier noch alles per Hand gemacht, wenn es doch mittlerweile moderne Maschinen gibt? „Weil es eben Tradition ist und so vor 300 Jahren gemacht wurde. Über Maschinen haben wir ehrlicherweise noch gar nicht nachgedacht“, sagt Ahrens lachend. „Tatsächlich ist es auch eine Vorgabe, um sich immaterielles Kulturerbe der Menschheit nennen zu dürfen. Man muss also noch alles so machen wie damals, sonst kann man den Titel wieder verlieren.“
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„Der Blaudruck kommt übrigens aus Asien. Zuerst kam es nach Holland, dann breitete es sich in ganz Europa aus“, erklärt Ahrens. Heute gibt es nur noch wenige Blaudruckereien in Europa – darunter einige in Deutschland, Österreich, Tschechien, Ungarn und der Slowakei. „Die Blaudruckerei in Einbeck gilt darunter als die älteste in ganz Europa. Wir befinden uns durchgehend seit 1638 in Betrieb“, fügt Ahrens hinzu. In der Lausitz gibt es eine ein paar Jahre jüngere Blaudruckerei, die jedoch zwischendurch etwa 100 Jahre Pause gemacht hat. „Mit der und weiteren Blaudruckereien in Europa besteht noch guter Kontakt“, kommentiert Ahrens und führt weiter aus: „Einmal im Jahr findet in Österreich in dem 2.000-Einwohner-Dorf Gutau der Färbermarkt statt. Dort treffen sich viele der Blaudruckereien und tauschen sich miteinander aus.“
Ahrens vervollständigt derweil eine Reihe des Musters auf dem weißen Tuch. Er legt die Model zurück in die Wanne und begibt sich anschließend zu einer sehr alt wirkenden Regalvorrichtung. Dort, in den Schatten der Regale gehüllt, stapeln sich weitere Modeln in verschiedenen Größen und mit unterschiedlichen Mustern. Der Blaudrucker greift nach einer Model, die sich durch ein recht edles Blumenmuster von den anderen unterscheidet. „Diese Muster haben wir aus Frankreich übernommen, die bekanntlich auf blumige Verzierungen stehen. Diese Model hier stammt etwa aus dem Jahr 1790“, erzählt der Inhaber der Blaudruckerei.
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Auf einer gegenüberliegenden Wand verweist Ahrens auf zwei Bilder. Das eine zeigt zwei männliche und eine weibliche Person. Die drei Personen sind jeweils in blaue Kleider gehüllt, die das typische Muster der Blaudruckerei aufweisen. „Das hat eine Studentin, die wir 2014 hier als Praktikantin begrüßen durften, für ihre Diplomarbeit geschaffen. Damals organisierte sie eine Modenschau, auf der sie ihre eigens designte ‚Blaudruck-Kollektion‘ präsentierte“, erklärt Ahrens das Bild. Auf dem zweiten Bild erkennt man eine Dame in einem goldenen Kleid, dessen Stil dem Barock nachempfunden ist. Über der Frau steht die Aufschrift: „Handwerkskunst trifft auf Spielkunst.“ „Dieses Kleid war eine extra Anfertigung für die Schaubühne Berlin – vom Druck auf dem goldenen Stoff bis hin zum Nähen“, erklärt Ahrens.
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Nachdem Ahrens das Blumenmuster entlang des Randes des weißen Tuches aufgetragen hat, hängt er dieses auf ein ebenfalls sehr alt wirkendes Reck auf. „Der Druckpapp muss jetzt über Nacht auf dem Reck trocknen. Dann kann das Tuch eingefärbt werden. Das machen wir wiederum nur einmal am Anfang jedes Monats“, erklärt der Blaudrucker. Hierzu werden die Stoffe zunächst gesammelt, ehe sie an einem Tag durchgefärbt werden. Der Stoff wird hierfür jeweils auf einer Haspel aufgewickelt und anschließend in eine Wanne getaucht, die Indanthrenfarbe beinhaltet. Indanthren ist ein Akronym für Indigo und Anthracen und wird vom Chemieunternehmen BASF seit 1901 hergestellt. „Früher färbten wir unsere Textilien mit Indigofarben, sind aber dann auf Indanthrenfarbe umgestiegen, weil Letztere sich nicht so schnell auswäscht und langlebiger ist“, erklärt Ahrens. „Außerdem ermöglicht uns die Indanthrenfarbe im Gegensatz zum Indigo eine größere Farbpalette, also mehr als nur Blautöne“, fügt er hinzu. „Zu früheren Zeiten benötigte man deutlich mehr Zeit zum Färben, da ‚kaltgefärbt‘ wurde. Das bedeutete, dass pro Tuch etwa 30 Minuten gefärbt werden musste. Mitsamt dem Nähprozess erschuf man am Ende des Tages gegebenenfalls drei Tücher. Irgendwann kam die Technik des ‚Warmfärbens‘ zum Einsatz, weshalb ein Tuch nur noch fünf Minuten in der Färbeküpe hängt. Somit können heute deutlich mehr Tücher am Tag gefärbt werden“, erklärt der Blaudrucker.
Ist die Farbe in den Stoff gezogen, wird der Stoff noch einmal ausgewaschen, anschließend gekocht und letztendlich erneut ausgewaschen. Dabei löst sich unter anderem auch der Druckpapp vom Stoff und hinterlässt die typischen weißen Muster. Der Druckpapp verhindert also im Prinzip, dass die aufgetragenen Stellen gefärbt werden. Bevor es dann zum Nähen geht, werden die Tücher auf dem Dachboden des Gebäudes an dort ebenfalls installierten Recken getrocknet.
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In einem etwas kleineren Zimmer, aus dem die Nähmaschinengeräusche zu hören sind, werden die trockenen Stoffe schließlich in Tischläufer, Kissen, Taschen und vieles mehr umgenäht. „Hierfür haben wir unsere Mitarbeiterinnen, die ebenfalls seit Jahren in unserer Blaudruckerei angestellt sind“, zeigt sich der Inhaber stolz und deutet auf einen langjährigen Mitarbeiter, der unter dem Nähtisch liegt: „Das ist unser Bürohund, der auch schon einige Jahre auf dem Buckel hat.“„Früher ist er noch sehr wild und neugierig durch die Blaudruckerei gestrolcht, heute schaut er uns nur noch gerne bei der Arbeit zu“, erklärt eine der Näherinnen.
Ahrens holt ein Stück Stoff aus dem Regal hinter einer Näherin und erklärt, dass dieses Tuch von einer Workshop-Teilnehmerin stammt. „Wir bieten hier auch Workshops und Seminare an, bei denen Teilnehmer selbst entscheiden dürfen, was sie auf einem von uns bereitgestellten Tüchlein drucken wollen. Hierbei entstehen teils sehr beeindruckende Muster“, beschreibt der Inhaber das Angebot und verweist auf die Website des Einbecker Tourismus (https://www.einbeck-tourismus.de/einbecker-blaudruck), auf der man die Seminartermine einsehen kann. Außerdem lassen sich dort auch Führungen buchen. „Hier haben wir auch Tücher von Kunden, die Muster in Auftrag gegeben haben“, erklärt Ahrens. Das heißt, so der Inhaber, dass Kunden lediglich ihren eigenen Stoff mitbringen können und nach Wunsch ein Muster in Auftrag geben können.
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Sind die verschiedenen Textilprodukte fertiggestellt, werden sie im eigenen Laden ausgestellt. Neben Dekoartikeln und Schmuckstücken ergibt sich so ein buntes Allerlei, das den Verkaufsflächen zusammen mit dem warmen Licht der Deckenlampen eine wohlige Atmosphäre verleiht.
Warum aber Schmuckstücke und Dekoartikel, wenn der Blaudruck rein mit Textilien hantiert? „Leider kommen immer weniger Kunden in die Blaudruckerei. Wir haben unser Stammklientel, die aber alle schon 50 plus sind. Die jüngere Generation ist noch nicht so weit, dass sie sich für Tischdecken oder Ähnliches interessieren“, kommentiert der 64-Jährige. „Auch wenn wir immaterielles Kulturerbe der Menschheit sind, so bringt uns das leider nicht mehr als einen Titel. Daher müssen wir auch auf andere Artikel zurückgreifen, um die Blaudruckerei am Laufen zu halten“, erklärt der Geschäftsführer.
Und woher dann die Motivation? „Es macht nach wie vor immer noch Spaß. Man sieht sich am Prozess vom weißen Schal bis zur fertigen Tischdecke im Laden nicht satt. Man ärgert sich, wenn man einen Fehldruck produzier hat und freut sich wiederum, wenn man ein Meisterwerk geschaffen hat. Gerade diese Leidenschaft treibt mich weiter an, auch wenn das hier ein hartes Brot ist“, erklärt Ahrens mit einem Lächeln.
Fotos: zir