Einbeck (red). Der Betrachter erhascht einen letzten Blick auf die üppigen Blüten im Moment ihrer größten Prachtentfaltung. Die großformatigen Werke von Luzia Simons werden zu Augenweiden. Die übereinander gelagerten Schnittblumen erlangen in ihrer Opulenz eine geradezu ungeheuerliche Präsenz, ein Sinnbild für Schönheit und Vergänglichkeit. Durch die Inszenierung der Blüten auf einem samtigen, dunklen Fond erhalten die Tulpen und Chyrsanthemen skulpturale Qualität und vermitteln die spannungsvolle Aura zwischen extremer Nähe und großer Distanz. Luzia Simons jetzt im KWS Biotechnikum gezeigte Arbeiten sind keine klassischen Fotografien. Die Künstlerin hat sich für Bildkompositionen mit echten Blüten entschieden, die sie direkt auf dem Scanner anordnet. Insgesamt bestechen die Bilder durch eine außergewöhnliche Farbigkeit und räumliche Tiefenwirkung. Die zwei sich über zwei Stockwerke erstreckenden Banner wirken wie Vorhänge einer Theaterbühne, auf der sich die imaginären Gärten der Künstlerin entfalten. „On Stage“ heißt dann auch die Schau, die jetzt eröffnet wurde und noch bis zum 15. April 2025 zu sehen ist. Mehrere Führungen sind geplant, die Termine werden rechtzeitig bekannt gegeben.
Luzia Simons gilt als Pionierin der Scannogramme: Seit den 1990-er Jahren erzeugt sie mit Hilfe eines speziellen Scanners anstelle einer Kamera irritierend schöne Blumenarrangements. Die illusionistischen Raumbilder entstehen, indem die Künstlerin die Blumen auf dem Scannerglas drapiert, der Scanner die Oberflächen abtastet und dann ein digitales Abbild erschafft, das mit dem Computer gelesen und visualisiert werden kann. Luzia Simons verarbeitet diese höchst präzisen Bildvermessungen anschließend wie eine belichtete Fotografie. Die Stellen, an denen die Blumen auf dem Glas des Scanners aufliegen, werden mikroskopisch genau abgebildet. Wo es keine Berührungspunkte und einen größeren Abstand gibt, bleibt es bei einer abstrakten Unschärfe.
„Die monumentalen Blumenkompositionen beeindrucken uns, ziehen uns in den Bann und lassen die Frage aufkommen: Ist das gemalt oder ist es fotografiert?“, fragte Stephan Krings, Head of Global Marketing & Communications bei KWS, bei der Vernissage. Die großformatige Blumenpracht habe etwas Paradiesisches, in der man sich fühle wie ein kleiner Schmetterling. „Natürlich sind Pflanzen eine Brücke zu KWS, aber schön ist es auch, wenn Künstler eigene Methoden mitbringen wie hier das Scannogramm.“ Denn in der Forschung und Entwicklung seien auch immer neue Ideen gefragt.
„Luzia Simons gelingt es auf unvergleichliche Weise, in uns das Gefühl der Unerreichbarkeit und Unermesslichkeit hervorzubringen“, sagte Dr. Bettina Ruhrberg, Direktorin des Mönchehaus Museums Goslar. Die Blütenarrangements entfalteten in ihrer Opulenz eine ungeheure Präsenz und eine geradezu verführerische Kraft. Das Generalthema der gebürtigen Brasilianerin gehe aber weit über Blumen hinaus. „In ihrem Werk feiert die Künstlerin die Schönheit der Natur, wobei die Fragilität und Vergänglichkeit der Natur ebenso wie ihre Gefährdung durch Eingriffe und Übergriffe der Menschen Thema ihrer Arbeiten sind.“ Luzia Simons beschränke sich nicht auf die Darstellung traumhafter Blumenkompositionen, sondern binde die aktuellen Fragestellungen der Zeit in ihre Arbeiten ein.
„Ihre scheinbar so offensichtlichen und fröhlich leichten Arbeiten entspringen einer tiefen Weltsicht“, zitierte Bettina Ruhrberg aus Beobachtungen des Werkes Luzia Simons durch die französische Kulturreferentin Chantal Colleu-Dumond. „All ihre Landschaften und inneren Gärten feiern die Dauer und zugleich die Zerbrechlichkeit der Dinge, vollbringen aber vor allem das Wunder, dass jede Blume, jedes Blatt, das in der Kunst vor dem Verschwinden bewahrt wird, die unendliche Schönheit der Welt in unsere Bildvorstellung eingraviert.“
Die Blumenblüten-Banner aus Stoff sind im Biotechnikum wie Vorhänge einer Theaterbühne. Zwischen diesen präsentieren sich in den vier zur Bühne gewordenen Kabinett-Räumen großformatige Repliken von Zeichnungen aus der Serie „Unkraut“. Luzia Simons hat über viele Jahre unterschiedliche Blattformen aus zahlreichen Ländern gesammelt und in zarten, schwarz-weißen Papierarbeiten verarbeitet. Dass die Natur nicht nur aus schönen, vergänglichen Blumen besteht, zeigt diese Serie wandfüllender Drucke. Sie mahnen, dass jegliche Formen der Natur für das Überleben der Menschen und Tiere auf unserem Planeten essentiell sind. Ein Teil der Bilder sind auf hochwertigem Hanfpapier der Hahnemühle FineArt GmbH (Dassel) gedruckt worden. Die Zeichnungen bilden in ihrer zurückhaltenden Tonalität einen feinen Kontrast zur Farbexplosion der Blütenstillleben der Ausstellung.
In ihren barocken Blumenstillleben bezieht sich Luzia Simons auf die spezielle Symbolik der Tulpen. Die Blume mit Kultstatus diente im 17. Jahrhundert nicht nur als Vanitasdarstellung, sondern war auch Inbegriff des aufblühenden Handels und des späteren wirtschaftlichen Ruins – hervorgerufen durch den Crash der Amsterdamer Tulpenbörse, wo sie als Spekulationsobjekt gehandelt wurde. Obwohl die Tulpe als typisch niederländisch gilt, stammt sie ursprünglich aus den Steppen Kasachstans. Von dort gelangte sie an den Hof des Osmanischen Reiches und wurde zum Symbol Konstantinopels. Für Luzia Simons steht sie daher auch als Metapher für Migration und kulturellen Transfer. Ihre eigene transkulturelle Identität, also das Leben zwischen zwei Kontinenten, drei Sprachen und drei Kulturen, die Problematik von Heimat und Ferne, hat die Künstlerin immer wieder in verschiedenen Werkserien zum Thema ihrer Kunst gemacht.
Luzia Simons, geboren 1953 in Quixadá (Brasilien), studierte bis 1981 zunächst Geschichte und von 1984 bis 1986 Bildende Kunst an der Sorbonne in Paris. Heute lebt und arbeitet die Künstlerin in Berlin. Luzia Simons Arbeiten werden in Europa, USA, China und in Brasilien in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen in renommierten Galerien, Sammlungen und Institutionen ausgestellt. Aktuell sind ihre Werke in der Ausstellung ROOTED Künstlerinnen/Female Brazilian Artists im Unternehmen Brainlab München sowie in der Einzelausstellung „Le Jardin des délices" in Paris zu sehen.
Musikalisch wurde die Vernissage begleitet von Musikerinnen und Musikern der Mendelssohn-Musikschule Einbeck: Mit einem Solo von Violinistin Emilia Fioretti sowie zwei von Günter Tepelmann komponierten Stücken von den Streichern Amr Zineddin, Gloria Konrad und Lorenz Waldeck, Günter Tepelmann an der Konzertgitarre, Klarinettist Jürgen Rech und Oliver Beck am Kontrabass.
Foto: Julia Lormis